Wintergarten, eine Zeitreise – 17/06/2020

An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt eine Fotografie, die ich vor drei Monaten aus meiner Sammlung heraus gekramt habe. Ich habe während der Zeit des Lockdowns in Paris Familienfotos aufgehängt, was sonst überhaupt nicht meine Art ist, um meine Familie, von der ich durch die Grenzschließung abgeschnitten war, um mich zu haben. Die Fotografie zeigt mich engagiert diskutierend mit Freunden im Bus vor circa 20 Jahren, kurz vor meinem Diplom, auf dem Rückweg von einer Studienfahrt in Hamburg. Ich trage eine Halskette, die ich selbst gemacht habe, aus einem weißen Wollfaden mit daran geknoteten weißen Perlen, sowie ein rotes Hemd und eine Sonnenbrille.

Es war Frühling damals, fast Sommer, als wir, eine Gruppe junger Studenten unter Anleitung von Bernhard Prinz die Ausstellung von Jochen Lempert besuchten. Ich vermute, dass es sich um die Ausstellung „Planet der Affen - 365 Tafeln zur Naturgeschichte“ im Künstlerhaus Hamburg handelt, da das zeitlich passen würde. Ich bin mir aber nicht sicher. In Hamburg herrscht immer eine frische Brise, die ich auch in Paris manchmal erlebe und die sich mit starken Sonnenstrahlen gemischt, herrlich anfühlt.

Ich erinnere mich vage an den Ausstellungsraum, der sehr hell und großräumig war, aber wohlmöglich vermischt sich das in meinem Geiste, mit der jetzigen Ausstellung im Credac. Als ich gestern, circa 20 Jahre später den Weg nach Ivry antrete, freue ich mich auf die Begegnung mit den Fotografien von Jochen. In meiner Erinnerung sind sehr großformatige Bilder in verschiedenen Formaten mit Pflanzen und Tieren darauf zu sehen; die Fotografien strahlen, als würde Licht durch das Fotopapier dringen und das Motiv überstrahlen, was ihnen diese spezielle, lebendige Vergänglichkeit gibt. Ich erinnere mich, wie überrascht ich von dieser Ausstellung damals war, da Jochen Lemperts Fotografie auf mich, die ich das Ephemere, das Unscharfe, die Bewegung im Bild regelrecht zum Stil gemacht hatte an meiner Universität, in einer Fotografielandschaft, die damals von Personen wie Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky und Thomas Ruff um nur einige zu nennen, geprägt war. Die Begegnung mit diesen Bildern war mir eine leise Freude. Die Fotografien in der Ausstellung damals trugen, wenn ich mich recht entsinne, noch viel mehr Spuren von dem chemischen und / oder zufällig- beabsichtigten Prozeß, durch den sie auf dem Weg zu fertigen Bild gegangen waren. Spuren von Lichteinfällen oder Chemie sind mir in reger Erinnerung, da das Einbeziehen dieser Momente, die man normalerweise nicht zeigt, hier einen wichtigen Teil des Werkes ausmachen. Ein Werk des vergangenen Jetzt.

Es ist meine zweite Ausstellung nach der Aufhebung des Lockdowns, die ich besuche und sie bekommt dadurch zusätzlich zu der Tatsache, dass ich eine Ausstellung eines deutschen Künstlers besuche, dessen Arbeit ich vor langer Zeit kennengelernt habe, einen besonderen Status. Auf dem Weg dahin in der Metro sind alle Menschen mit Masken bekleidet, eine Szenerie, die auch wenn man sich langsam daran gewöhnt hat, hier und da immer noch wie Science Fiction wirkt, da ich natürlich Erinnerungen an die Zeit davor habe und nun die Veränderung sehe. Ich bin im Credac mit Mathieu Pitkevicht verabredet, mit dem ich im letzten Jahr ein Projekt mit einer Schulklasse gemacht habe. Als ich im dritten Stock der Manufacture ankomme, habe ich noch etwas Zeit bis er kommt und ich betrete die Ausstellung. Ich kenne diese Etage sehr gut, da ich während meines Studiums in Essen, ein Jahr Erasmus in Paris gemacht habe, und in der Manufacture des Oeillets damals eine Abteilung der Art Déco untergebracht war. Schon damals habe ich die über die Etage gehenden Fensterfronten und den Betonfussboden mit seinen Malerei Spuren geliebt. Daylight Factory. Die Fenster nun sind mit beigefarbenen Jalousien verhängt, um die Fotografien zu schützen und die Räume sind in gedämpftes, fast Krankenhaus artiges Weiß getaucht. Die Ausstellung „Jardin d'hiver / Wintergarten“ war einen Teil der Ausstellungsdauer aufgrund des Lockdowns geschlossen, wie im Winterschlaf. Ein Winterschlaf, der sich nun bis in den frühen Sommer zog und das Wesen der Menschen verlangsamt und nach innen gekehrt hat. Die schwarzweiß Fotografien wirken wie aus einer anderen Welt, ein wenig entrückt, halb wach, halb schlafend, durch die Ruhe des liebenden, fotografierenden Blicks. Irgendwie eine schöne Vorstellung, dass diese Ausstellung, die diese irisierende Ruhe ausstrahlt, eine zeitlang für sich war. Anders als in der Ausstellung, die ich damals sah, sind die Fotografien hier kleiner. Ein Teil der Bilder sind an den Wänden angebracht, ein weiterer Teil in weißen Vitrinen, die von weitem wie Tische aussehen. Dennoch wirken die Räume fast leer. Um die Bilder zu sehen, muss man näher treten, manchmal sehr nahe. Und jetzt wo ich das schreibe, frage ich mich, ob man den Fotografien oder dem Fotografen beim Betrachten der Bilder nahe tritt. Wohl eine Mischung von beidem. Die Bilder strahlen eine ruhige Intimität aus, der man nahe treten darf. Nähe, die man sich und anderen in den letzten Monaten abgewöhnt und verloren hat, wird hier visuell geheilt.

Gleich zu Beginn fällt mir eine Fotografie auf, die etwas wie Kirschen zeigt, die wie zwei schwarze Perlen an einem Ast hängen. Sie haben etwas verwunderliches an sich, da sie nicht als Paar da hängen, sondern jede für sich, aber neben einander. Ich frage mich ob Jochen sie so angebracht hat, da ich Kirschen so noch nie gesehen habe. Spontan mag ich sie, sie wirken kostbar, klar vor einem unscharfen Hintergrund, als würden sie gleich herunter tropfen.

In einer Vitrine fällt mir eine Serie von Fotografien auf, die Menschen im Zusammenhang mit Bäumen zeigt. Menschen, die neben Bäumen stehen oder sich an an einem Baum festhalten, spielen, eine physische Verbindung mit dem Baum eingehen. Körper und Vegetation, die eine Art Skulptur herstellen durch das Auge des Fotografen. Mir fallen morgendliche Szenen ein, während des Lockdowns, als ich um den geschlossenen Park getanzt bin und solche Verbindungen hergestellt habe, mit den Pflanzen und Tieren um mich herum. Da die Menschen zu Hause blieben, ist selbst in der Großstadt die Natur in den Vordergrund gerückt, auch aus dem Grund, weil der Mensch sich von dem was lebt und bewegt angezogen fühlt. Er selbst ist ja Leben und sucht diese Resonanz. Die Bilder haben diese tänzerische Leichtigkeit, etwas beiläufiges auf den ersten Blick, was aber gerade dadurch einen starken Eindruck beim Betrachter hinterlässt. En passant geht man durch die Ausstellung und hat Teil an dieser kostbar traumhaften Vergänglichkeit. Im zweiten Raum muss man sich fast über die Vitrine lehnen, um den Marienkäfer zu sehen, dessen Bild kaum größer als ein echter Marienkäfer ist. Ein Schmuckstück. Und das ist dieses schöne Moment zu dem Jochen hier einlädt, dieses Wunder der Natur, über die Kunst zu erleben als wäre es die Natur selbst. Ein leises Staunen.

Anschliessend unterhalte ich mich mit Mathieu darüber, dass er ein wenig mitbekommen hat, wie Jochen ist und wie er über seine Arbeit spricht. Obwohl er etwas schüchtern zu sein scheint und nicht so viel französisch spricht, hat er bei der Vernissage kleine Anekdoten zur Entstehung seiner Bilder erzählt, die es ihm ermöglicht haben, sich ein besseren Bild von ihm manchen. Und mir fällt ein, dass eben auch Bilder, genau wie Sprache bis zu einem gewissen Punkt nicht komplett übersetzbar sind, es immer ein Teil Unbekanntes geben wird, weil sie in einem bestimmten kulturellen Kontext entstanden sind und dieser so viel mehr beeinflusst als man zu Anfang dachte. Ich habe Jochen Lempert vor circa zwanzig Jahren gesehen und wußte gestern noch, dass er ein wenig wie ein Hippie aussieht und eine lässige, sympathische aber zurückhaltende Art zu reden hat. Eine Innerlichkeit, die ich persönlich als deutsch empfinde. Während ich beim Sprechen nachdenke, merke ich wie sehr ich mich im Dazwischen befinde, weil ich kontextuell und kulturell genau weiß, wo diese Art zu sein her kommt und sich im Menschen befindet. Mir ist ein bisschen schwindelig bei dem Gedanken, als ob diese flimmernde Oberfläche, die Jochens Bilder ausmacht, sich über mich legen würde und gleichzeitig ganz viel Licht durch mich hindurch strahlt und eine Linie zwischen damals und heute zieht.

Dieser Wintergarten ist nun für mich ein Jardin Secret wie man auf französisch sagt, um von dem Innersten zu sprechen, zudem ich zurückkehren möchte.

Jardin d’Hiver, Jochen Lempert

Credac, Ivry, 24/01-27/06/2020